Stolpersteine für Jenische

Für Jenische, die in Deutschland und anderen Ländern unter dem Nationalsozialismus ermordet wurden, werden mehr und mehr Steine der Erinnerung – «Stolpersteine» – gesetzt. Stellvertretend für viele werden hier zwei Beispiele geschildert.

Das Schicksal von Viktor Berger

Viktor Berger wird am 11. Mai 1906 in Enzisheim im Elsass geboren. Seine Eltern sind Karl Viktor Berger aus Zürich und Anna Maria Berger, geborene Guidemann, aus Kaiseraugst. Viktor ist das siebte von vierzehn Kindern. Er besucht keine Volksschule, da er mit seinen Eltern und Geschwistern, wie bei Jenischen oft üblich, ständig auf Reisen ist. Die Familie ist in der Schweiz, Frankreich und Deutschland unterwegs und handelt mit Waren des täglichen Gebrauchs. Wirklich gern gesehen sind sie jedoch nirgendwo. Aus behördlicher Sicht ist der nicht sesshafte Lebensstil «unsittlich» und mancherorts strafbar. Die Obrigkeit wirft Wandergewerbetreibenden vor, «einer geregelten Arbeit aus dem Weg zu gehen», und versucht, sie zu überwachen und zur Sesshaftigkeit zu zwingen.

Viktor Berger und seine Ehefrau Luise sind Jenische. Als Minderheit werden sie von den Behörden seit Langem kriminalisiert. Aus Sicht der Nazis gehören sie nicht zur Volksgemeinschaft. Plötzlich wird Viktor verhaftet und ohne Anklage ins KZ Buchenwald verschleppt, wo er bei der Zwangsarbeit ein Auge verliert. Viktor hat keine Straftat begangen, doch eine Mitarbeiterin der Stadt nennt ihn und Luise «arbeitsscheu» und «sittlich verwahrlost». Folgenschwere Worte: Nach seiner Heimkehr lässt das Lahrer Gesundheitsamt Viktor entmündigen und zwangssterilisieren. Viktor weiss, dass ihm furchtbares Unrecht widerfahren ist und kämpft jahrelang vergeblich mit Ämtern um Wiedergutmachung.

Quelle: Aus der Website «Zum Feind gemacht», eine Website des Bundesverbands Information & Beratung für NS-Verfolgte in Deutschland. (https://zumfeindgemacht.de/fall/viktor-berger/, abgerufen am 10. Mai 2025)

 

Das Schicksal des Philippe Gidemann

Philippe Gidemann wurde am 5. März 1911 in der Gemeinde Lohn im Kanton Schaffhausen geboren. Seine Mutter Therese Wolff stammte aus Wihr-au-Val im einstigen Elsass-Lothringen und war Tochter eines Korbers und seiner Frau Balbina aus dem bekannten jenischen Geschlecht Remetter, sein Vater Nikolaus aus dem Münstertal in der gleichen Region als Sohn von Leon und Marie Remetter.

Die Eltern verbrachten die Jahre des Ersten Weltkriegs in der Schweiz, wo sie heirateten und wo Philippe geboren wurde. So entkam der Vater Nikolaus, der schon früher Militär gemacht hatte, der deutschen Kriegsmobilisierung.

Sohn Philippe heiratete 1934 Catherine Gargowitsch, mit der er sechs Kinder haben sollte, die mehrheitlich in verschiedenen Dörfern unweit von Colmar zur Welt kamen. Das letzte Kind wurde in Abwesenheit des Vaters geboren. Denn der hatte eine Dummheit begangen: Unterwegs in der Strassenbahn von Colmar in den nahen Ort Winzenheim am 27. September 1943, zusammen mit Familienangehörigen, pfeift er die Marseillaise – das Lied, das für antideutsches Verhalten steht. Wegen antideutscher Haltung wird er verhaftet und von der Gestapo zuerst in Colmar gefangen gehalten, einen Monat später wird er ins sogenannte Sicherungslager Schirmeck-Vorbruck im Norden des Elsass gebracht. Nach einem weiteren Jahr wird dieses Lager unter dem Druck der Kriegsentwicklungen aufgegeben, und die Gefangenen werden nach Deutschland verfrachtet. Gidemann kommt ins Sicherheitslager Rotenfels bei Gaggenau in Baden-Württemberg, wo er Unmenschliches zu erleiden hat und an Tuberkulose erkrankt. Französische Verbände der Alliierten befreien das Lager Rotenfels Anfang April 1945. Unter den Überlebenden ist auch Philippe Gidemann. Allerdings ist sein Gesundheitszustand alarmierend, so dass er in Colmar in ein für Tuberkulosekranke eingerichtetes Spital kommt. Er stirbt 1945 als jenisches Opfer des Nationalsozialismus.

Quelle: Text nach Christophe Woehrle, Colmar, abgerufen auf Facebook bei Marie Geoffroy Lefèvre: Pavés de mémoire en France – Stolpersteine in Frankreich (Facebook), mit Dank an Christophe Woehrle.

Bild oben links: Stolpersteinsetzung für den aus Schaffhausen stammenden Jenischen Philippe Gidemann 2021 im elsässischen Neuf-Brisach / Neu-Breisach. (Bild Radgenossenschaft)

Bild oben rechts: Ankunft der Familienmitglieder, Fahnenträger und öffentlichen Würdenträger aus Anlass der Stolpersteinsetzung für Philippe Gidemann. (Bild Radgenossenschaft)

Bild unten: Stolpersteine, gesetzt in Tuttlingen (Deutschland) für Angehörige der Familie Berger, Vater Josef Berger und Sohn Franz Berger, die im KZ Mauthausen umgebracht wurden. (Foto Angela Lenhart, Facebook) «Nach Zigeunerart umherziehende Personen» war eine Umschreibung für die facettenreiche Bevölkerungsgruppe der Jenischen. Es sollte nicht der einzige Stempel sein, der ihr Schicksal festschrieb. Hinzu kamen später Ausdrücke wie «Zigeunermischlinge» oder «Arbeitsscheue». Der Himmler-Erlass war eine Grundlage für die Erfassung, Deportation und Ermordung vieler Roma, Sinti und eben auch Jenischen.

  • Himmlers Erlass zur Bekä¤mpfung der Zigeunerplage Am 8. Dezember 1938 verschickte der oberste Chef der deutschen Polizei Heinrich Himmler ein Rundschreiben betreffend «Bekämpfung der Zigeunerplage». Darin hiess es: «Ich ordne deshalb an, dass alle sesshaften und nicht sesshaften Zigeuner sowie alle nach Zigeunerart umherziehenden Personen beim Reichskriminalpolizeiamt» – der Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens – «zu erfassen sind.»